Einigkeit und Recht und Freiheit? Einer dieser 3 Begriffe kann weg!
Ein Plädoyer für mehr Polarisierung
Die meisten Menschen mögen Streit nicht besonders. Das gilt im Kleinen, in Beziehungen und Freundschaften, wie im Großen, wenn sich Koalitionspartner und EU-Mitglieder in die Haare kriegen.
Streit polarisiert. Und Polarisierung hat keinen guten Ruf.
Wenn sich Einstellungen, Werte und Ideale unvereinbar gegenüberstehen, geht das nicht ohne Spannung und Emotionen. Das komplette Gegenteil von Einigkeit also, die in Deutschland ja sogar in der Nationalhymne beschworen wird.
Besonders nach dem Sommer 2015, als Hunderttausende Menschen auf der Flucht in Deutschland Asyl suchten, mutierte gesellschaftliche und politische Polarisierung zum bedrohlichen Schreckgespenst der öffentlichen Debatte.
Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland?
In ihrer jüngsten Regierungserklärung im März 2018 erklärte Kanzlerin Angela Merkel es dann sogar
Hinter dem Gedanken, dass Polarisierung eine zersetzende und zerstörerische Kraft innewohne, steckt jedoch ein Missverständnis, das die eigentliche Gefahr für die Demokratie birgt.
Das Problem mit der ewigen Einigkeit
»Einigkeit« ist ein Zustand, den sich Religionen auf die Fahne schreiben können – als Zielvorstellung für ein politisches Gemeinwesen taugt er eher nicht.
Denn in einer vielfältigen Gesellschaft wird es immer Meinungen und Haltungen geben, die nicht miteinander vereinbar sind. Ob zum Beispiel ein bedingungsloses Grundeinkommen eine gute Idee ist, hängt nur in zweiter Linie von Berechnungen dazu ab, wie es denn zu finanzieren wäre. In erster Linie geht es um das Menschenbild derjenigen, die dafür oder dagegen argumentieren: Muss die Stellung der Einzelnen in der Gesellschaft ausschließlich auf Leistung beruhen, weil andernfalls niemand mehr am Morgen aus dem Bett kommt? Oder setzt eine bedingungslose Grundsicherung Potenziale frei, die letztlich allen zugutekommen, weil sie die Grundlogik des Kapitalismus herausfordern?
Diese beiden Weltsichten werden nie vereinbar sein. Aber es ist kein Problem, dass sie nebeneinander existieren.
Wer Polarisierung als Bedrohung empfindet, läuft Gefahr, alle Energie darauf zu richten, den anderen auf die eigene Seite ziehen zu wollen, hin zum eigenen Pol. In manchen Fragen ist das aber schlicht ein Ding der Unmöglichkeit.
Aber bedeutet das im Umkehrschluss, dass alles sagbar ist, jede Meinung ihre Daseinsberechtigung hat und wir uns auch mit denen auseinandersetzen müssen, die andere abwerten?
Nein.
Grenzen und Gefahren der Polarisierung
Um die Grenzen des sinnvollen Streitens auszuloten, lohnt sich ein Blick zur Beziehungswissenschaft. Der US-amerikanische Psychologe John Gottman identifiziert 4 Verhaltensweisen in Paar-Konflikten als »apokalyptische Reiter«, die das Ende einer Partnerschaft mit ziemlicher Sicherheit voraussagen:
Rechtspopulisten agieren ziemlich oft nach diesen Mustern.
Die Abwertung einer anderen Gruppe ist mit dem Anspruch einer liberalen Demokratie nicht vereinbar
Dabei dehnt sie die Wahrheit so weit, dass in den Köpfen vieler Ungarn unheimliche (und falsche) Szenarien entstehen: unkontrollierte Masseneinwanderung, gefördert von der EU und dem US-amerikanischen Milliardär George Soros, die an den Grundfesten der eigenen Existenz – der Existenz des ungarischen Volkes – rütteln könnte. Orbán ignoriert einfach, dass er ein Teil des Systems ist, das er da gerade angreift, und labelt gleichzeitig Menschen auf der Flucht als Bedrohung – und diejenigen, die ihnen helfen wollen, als politische Feinde.
Ein solches Vorgehen ist typisch für rechtspopulistische Parteien und Gruppierungen, wie sie der Politikwissenschaftler Ludger Helms beschreibt. Letztlich basiere die von rechtspopulistischen Akteuren betriebene Polarisierung auf der »These einer Ungleichwertigkeit sozialer Gruppen« –
Aber wie sieht sie denn nun aus, die produktive Polarisierung?
Polarisiert euch! Wie guter Streit die Gesellschaft bereichern kann
Gut für die Demokratie ist Polarisierung immer dann, wenn wichtige Zukunftsthemen im Mittelpunkt der politischen Debatte stehen.
Klingt wie eine Binsenweisheit, doch in Deutschland war das lange nicht der Fall. In den Großen Koalitionen der Bundesrepublik verschwammen unterschiedliche politische Visionen zu einem Einheitsbrei, der auch den Aufstieg vermeintlicher Alternativen begünstigte.
Aus der neuen Spannung erwächst etwas Produktives. Auch die Bürgerinnen müssen sich outen, wenn Konfliktlinien aufbrechen. Eine polarisierte Debatte zwingt dazu, Stellung zu beziehen: Will ich in einer offenen Gesellschaft leben, die Ressourcen dafür aufwendet, Menschen in Not zu helfen, auch wenn sie aus anderen Teilen der Welt kommen oder eine andere Religion haben als ich? Oder stehe ich Zuwanderung kritisch, ängstlich, vielleicht sogar ablehnend gegenüber?
Zu solchen grundlegenden Fragen haben Menschen immer eine Haltung – auch dann, wenn gerade nicht lautstark darüber gezankt wird, was der richtige Weg ist. In Zeiten des Streits müssen sie Farbe bekennen und sich mit den Argumenten der anderen auseinandersetzen.
Die Forschung sieht darüber hinaus eine Reihe von Vorteilen, die aus einer polarisierten öffentlichen Debatte erwachsen können.
- Entscheidungsträger stehen unter einem größeren Rechtfertigungsdruck: Je stärker Oppositionsparteien auf eine klare Abgrenzung zur Regierung setzen, desto besser muss diese ihre Entscheidungen erklären und rechtfertigen.
- Polarisierung schafft Transparenz und Übersichtlichkeit: Wer ist für die
- Die Wahlbeteiligung steigt: Vor allem im amerikanischen Kontext belegen Studien, dass mehr Wähler ihre Stimme abgeben, wenn sich die Kandidaten zuvor deutlich an verschiedenen Debatten-Polen positioniert haben.
- Polarisierung wirkt mobilisierend: Mit Daten des European Social Survey
»Falsche« Polarisierung und die Macht der Medien
In den USA ließ sich erst Anfang des Jahres 2019 beobachten, wozu Polarisierung im Extremfall aber auch führen kann: Der mit 35 Tagen bislang längste
Sperrt sie ein! Sperrt sie ein! – Slogan von Trump-Unterstützern und Clinton-Gegnern im US-Wahlkampf im Jahr 2016
Wissenschaftler beobachteten in den USA zudem einen Effekt, den sie »falsche Polarisierung« nennen:
Dabei beobachteten die Wissenschaftler, dass die verschiedenen Gruppen eigentlich weniger voneinander trennt, als sie selbst annehmen; sogar dann, wenn es um
Warum ist das so? Eine Antwort: Weil wir uns mit Vorliebe dort informieren, wo unsere Meinung einen Widerhall findet – in der viel beschworenen
Raus aus der medialen Echokammer
Dort haben sich einige Medien zusammengetan, die ansonsten eher nicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Das Projekt heißt »Spięcie«, was so viel bedeutet wie »Spannung«. Und so funktioniert es: Eines der Magazine macht einen Aufschlag mit einem Text zu einem gesellschaftlich relevanten Thema (bis jetzt wurden beispielsweise Flucht,
Die Leser bekommen so einen seltenen Einblick
Pluralität zu akzeptieren ist der erste Schritt auf der Suche nach Kompromissen und Konsens. Man könnte auch sagen: nach Lösungen.
Titelbild: Hermes Rivera - CC0 1.0