Ersatzlos gestrichen? Wie jede Stimme zählen könnte
6,8 Millionen Stimmen im Müll – Wähler von Kleinparteien haben in Deutschland schlechte Karten. Dabei könnte ihnen bereits eine kleine Änderung im Wahlrecht zu mehr Bedeutung verhelfen.
Adrian Senf glaubt, dass seine Stimme zählt. Dass sie etwas verändern kann. Darum geht er wählen. Bei der vergangenen Bundestagswahl im Jahr 2013 hat er sie der Piratenpartei gegeben, in der Hoffnung, dass mindestens 5% seiner Mitwähler es ihm gleichtun und der neuen Partei den Einzug in den Bundestag ermöglichen würden. Doch es kam anders.
Adrian Senf, der sein Wahlgeheimnis wahren möchte und in Wirklichkeit anders heißt, ist einer von über 6,8 Millionen Deutschen, deren Stimme bei der vergangenen Bundestagswahl verfallen ist. Das ist Ergebnisse der Bundestagswahl 2013 die Stimmen von Grünen und Linkspartei zusammen.
– fast so viele wie»Ich war schon sehr enttäuscht«, sagt Adrian Senf über den Verlust seiner Stimme. Er sei davon ausgegangen, dass die Piraten die Hürde schaffen. Sonst hätte er anders gewählt, denn er möchte seine Stimme nicht vergeuden.
2013 war eine außergewöhnliche Wahl, weil besonders viele Stimmen unberücksichtigt geblieben sind. FDP und AfD sind damals knapp an der Ergebnisse der Bundestagswahl 2009 rund 2,6 Millionen Stimmen – das sind mehr als Ergebnisse der Bundestagswahl 2009 nach Ländern alle Stimmen aus Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen zusammen.
gescheitert. Doch auch ohne dieses Phänomen verfielen schon bei der vorherigen Wahl 2009Björn Benken aus Braunschweig will sich damit nicht abfinden. Er engagiert sich mit einigen Mitstreitern seit über 15 Jahren für eine Wahlrechtsreform. Website der Aktion Wahlreform »Aktion Wahlreform« nennt sich ihre Initiative. Gegen die letzte Bundestagswahl legte er eine Benkens Wahlprüfungsbeschwerde vom 29.08.2014 Wahlprüfungsbeschwerde vor dem ein, über die bis jetzt noch nicht entschieden worden ist. »Warum ich das mache? Weil mein Herz schon immer für kleinere Parteien geschlagen hat und ich es ungerecht finde, dass sie durch die benachteiligt werden«, sagt Benken.
Eingriff in die Wahl- und Chancengleichheit
Dass Sperrklauseln sowohl die Zum Beispiel 2014 im Urteil zur 3%-Hürde bei der Europawahl (Randnummern 51-52) festgestellt worden. »Es ist natürlich umso dramatischer, dass es bei einer sinkenden Wahlbeteiligung trotzdem einen großen Anteil an Stimmen gibt, die nicht berücksichtigt werden – obwohl sich die Leute an der Wahl beteiligen«, meint Oliver Wiedmann von der bundesweit tätigen Nichtregierungsorganisation Mehr Demokratie e. V. Zumindest die Stimmen, die tatsächlich abgegeben werden, müsse man doch zu 100% berücksichtigen.
als auch die Chancengleichheit der Parteien einschränken, ist vom Bundesverfassungsgericht immer wieder
Obwohl das Bundesverfassungsgericht die Sperrklauseln bei der Europawahl
hat es sie bei Bundes- und Landtagswahlen Sie seien notwendig, um kleine Parteien aus dem Parlament fernzuhalten und so dessen Zersplitterung zu verhindern, lautet das gängige Argument der Verfassungsrichter. Ob es dafür allerdings wirklich einer Sperrklausel bedarf, ist umstritten. Auch, ob die Größe der im Parlament vertretenen Parteien überhaupt einen Einfluss auf die Regierbarkeit hat. Doch in Deutschland dominiert klar die Ansicht der Verfassungsrichter.Es gibt jedoch trotzdem eine Möglichkeit, die bisher verlorenen Stimmen zu berücksichtigen – auch ohne die 5%-Hürde abzuschaffen: Die Rede ist von der sogenannten Ersatzstimme. Sie wird auch als Alternativ-, Hilfs- oder Nebenstimme bezeichnet.
Einfach eine Ersatz-Partei ankreuzen
Das Prinzip ist einfach: Für den Fall, dass die gewünschte Partei an der 5%-Hürde scheitern sollte, kann ersatzweise noch eine andere Partei gewählt werden. Damit aber niemand mehr als eine Stimme hat, wird die Ersatzstimme nur dann gewertet, wenn die Hauptstimme verfällt.
Adrian Senf hätte auf diese Weise doch noch Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestags haben können. Wenn er gewusst hätte, dass die Piraten nicht in den Bundestag kommen, hätte er lieber die Grünen gewählt. Die Ersatzstimme hätte ihm die Möglichkeit gegeben, zusätzlich zu seinem Kreuzchen bei den Piraten auch noch ein
bei den Grünen zu setzen. Da seine Hauptstimme für die Piraten wegen der 5%-Hürde verfiel, wäre stattdessen die Ersatzstimme gewertet worden.
Erfahrungswerte dazu gibt es bisher nicht, weil das System Stellungnahme des Wahlforschers Kai Arzheimer von der Universität Mainz vor dem Landtag Schleswig-Holsteins (S. 6) so der Kenntnisstand der vergleichenden Wahlforschung. Bis zur vergangenen Plenartagung wurde im Schleswig-Holsteinischen Landtag die Einführung einer Ersatzstimme diskutiert. Die Piratenfraktion hat im vergangenen Dezember zum wiederholten Male einen Änderungsantrag der Fraktion der PIRATEN Vorschlag für eine entsprechende Änderung des Wahlgesetzes gemacht. »Wir hatten eigentlich dafür geworben, die 5%-Hürde abzuschaffen«, sagt der Fraktionsvorsitzende Patrick Breyer, »wir mussten dann aber sehen, dass es dafür keine politische Mehrheit gibt. Durch die Ersatzstimme will er erreichen, dass »wenigstens die politische Richtung eingeschlagen wird, die die Menschen einschlagen möchten.«
noch nicht angewandt wurde,Die Ersatzstimme ermögliche es, ehrlicher zu wählen, so Breyer, weil man keine Sorge haben müsse, seine Stimme zu verlieren. Darüber hinaus stärke sie die demokratische Integration, indem »man den Leuten sagt: Beharrt nicht auf eurer kleinen Partei, sondern überlegt euch: Gibt es eine Partei, die vielleicht nicht die favorisierte ist, aber mit der ihr auch leben könnt?«
Was dagegen vorgebracht wird
Doch nicht jeder sieht die Ersatzstimme als Chance. Vor dem Schleswig-Holsteinischen Landtag hat auch der Kieler Politikprofessor Joachim Krause eine
Krauses Stellungnahme vom 11.1.2014
Stellungnahme abgegeben.
»Der Vorschlag der Einführung von Ersatzstimmen macht überhaupt keinen Sinn«, schreibt er darin. Heilsamer Anreiz für Wähler, ihre Stimme Volksparteien zu geben
Dahinter stehe die Vorstellung, dass jeder Wähler sich irgendwie durch irgendeine im Parlament befindliche Partei vertreten sehen soll. Ob dies das Ziel eines Wahlgangs sein sollte, hält er für zweifelhaft. Stattdessen biete der mögliche Stimmenverfall einen »heilsamen Anreiz« für Wähler, ihre Stimmen Volksparteien zu geben und nicht »solchen Parteien, die nur ein Thema besetzen oder wegen ihrer ideologischen Radikalität nur bedingt Unterstützung finden werden.«
Ein interessantes Argument, das aber wohl nicht jedermanns Verständnis einer repräsentativen Demokratie entspricht. Denn wen vertritt das Parlament, wenn sich nur ein Teil der Wähler durch eine darin befindliche Partei vertreten fühlt? Richtig, nur einen Teil der Wähler – es müsste dann eigentlich »Teil-des-Volks-Vertretung« genannt werden. Demokratische Legitimation erhält es aber gerade, wenn sich jeder Wähler durch irgendeine Partei vertreten sieht. Anreize für die Wahl bestimmter Parteien zu setzen, ist in einem demokratischen Staat Aufgabe der Parteien selbst – durch ihre Wahlprogramme und ihr politisches Handeln. Das Wahlrecht darf kein Mittel zur Beeinflussung sein.
Pirat Patrick Breyer will durch die Ersatzstimme erreichen, dass die Menschen mit der Demokratie zufriedener sind. Zwar könnten die Wähler auch mit Ersatzstimmen nicht Battis' Stellungnahme vom 17.12.2013 rational Einfluss nehmen, weil die Fraktionen trotzdem unterschiedliche Koalitionsmöglichkeiten hätten, wie Rechtsprofessor Ulrich Battis von der Berliner Humboldt-Universität zu bedenken gibt. Zumindest aber die Zusammensetzung des Bundestags, so Breyer, würde dann näher am Willen der Wähler liegen. Die Interessen der jeweiligen Wähler würden also zumindest vertreten werden, auch wenn die Mehrheit sich am Ende vielleicht anders entscheidet.
Ob Ersatzstimmen rechtlich zulässig sind, ist vom Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden worden. In der juristischen Literatur ist die Frage Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes Gutachten dazu zu verfassen. Der wissenschaftliche Dienst weist darin auf die unklare Rechtslage hin, sieht selbst aber keinen Verstoß gegen verfassungsrechtliche Wahlgrundsätze.
In Schleswig-Holstein hat die Piratenfraktion den wissenschaftlichen Dienst des Landtags beauftragt, ein
Trotzdem: Ersatzstimmen sind machbar
Aber werden Wahlen dadurch nicht zu kompliziert? Bereits die Unterscheidung von Erst- und Zweitstimme bereitet vielen Wählern Schwierigkeiten. Laut einer Studie des infratest dimap Instituts repräsentativen Umfrage des infratest dimap-Instituts im Jahr 2013 weiß nur knapp jeder zweite Wahlberechtigte, welche Stimme überhaupt für die Zusammensetzung des Bundestags entscheidend ist. Das Wahlrecht ist also jetzt schon zu kompliziert. Die Frage ist: Soll das Wahlrecht deshalb genauso kompliziert bleiben, wie es ist – oder würden die Wähler vielleicht trotzdem eine Veränderung wollen, auch wenn es dadurch noch etwas komplizierter wird?
In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick nach Hamburg, wo das Wahlrecht für die Bürgerschaftswahl in den letzten Jahren mehrfach reformiert wurde: Dort gibt es zwar keine Ersatzstimme, aber die Wähler erhalten seit 2009 mehrere Stimmen, die sie auf verschiedene Kandidaten verteilen oder bei einem anhäufen können. Immer vom mündigen Bürger ausgehen
Nach den Reformen ist die Wahlbeteiligung weiter gesunken und der Anteil ungültiger Stimmen deutlich gestiegen, was für Verständnisprobleme spricht. Die umfassende wissenschaftliche Auswertung der Reform zeigt aber, dass trotz der Kompliziertheit die meisten Wähler das neue Wahlrecht gegenüber dem alten bevorzugen.
Studie zur Evaluation des neuen Hamburger Wahlrechts
Bei den Nichtwählern fanden etwa 70% es zumindest nicht schlechter als das alte.
Obwohl die Mehrheit der Nichtwähler das neue Wahlrecht zu kompliziert findet, gaben fast drei Viertel an, dies habe für ihre Nichtwahl keinerlei Bedeutung gehabt.
Im Unterschied zum Wahlsystem in Hamburg müsste für die Einführung der Ersatzstimme der Wahlzettel nicht verändert werden, lediglich die Erklärung würde angepasst werden. Wer die Ersatzstimme nicht versteht, könnte daher weiter seine zwei Kreuzchen machen wie bisher. »Wir müssen immer vom mündigen Bürger ausgehen«, findet Breyer, »zumindest für diejenigen, die sich informieren und die Ersatzstimme nutzen möchten, für die sollte es diese Möglichkeit geben.«
Aber nicht nur die Wähler, auch die Stimmen-Auszähler müssten sich umstellen. Der Landeswahlleiter Schleswig-Holsteins gibt in seiner Stellungnahme des Landeswahlleiters vom 29.01.2016 (S. 9) schriftlichen Stellungnahme zu bedenken, dass Ersatzstimmen die Auszählung erheblich aufwendiger machen würden. Damit die Ergebnisse im Nachhinein überprüft werden können, sortieren die Wahlhelfer die Stimmzettel zu Stapeln. Der Landeswahlleiter geht davon aus, dass die Wahlvorstände dann erst am Folgetag die Auszählung beenden könnten, was deutlich teurer würde.
Dieses Argument lässt Breyer nicht gelten. Für ihn lautet die Frage: »Will man diesen zusätzlichen Aufwand in Kauf nehmen, ist es einem das wert oder nicht?« Die Stärkung der Demokratie sei wichtiger, als den Aufwand für die Auszählung möglichst gering zu halten. Verschiedene Möglichkeiten, wie die Auszählung effizient gestaltet werden könnte, schlägt zum Beispiel Björn Benken sehr detailliert in seinem Benkens Wahleinspruch vom 21.11.2013 (ab S. 23) Wahleinspruch vor.
Wege zur Wahlrechtsreform
Die Ersatzstimme ist also eine realistisch umsetzbare Möglichkeit, um das Wahlrecht gerechter zu machen. Doch in den Parlamenten ist sie nicht besonders beliebt:
Breyers Gesetzesvorschlag in Schleswig-Holstein ist vor knapp drei Wochen im Landtag Beschlussprotokoll des Landtags (S. 11) abgelehnt worden. Auch im Saarland wurden bereits in denen die Piraten ebenfalls Ersatzstimmen vorgeschlagen hatten. Nachdem die vergangene Bundestagswahl einige Empörung über die Millionen verfallener Stimmen ausgelöst hat, liegt die Frage nahe: Warum setzt sich eigentlich nicht auch der Bundestag mit dem Thema Ersatzstimme auseinander?
Perspective Daily hat bei den zuständigen Fraktionssprechern nachgefragt: Der SPD und den Linken ist der Ansatz bereits bekannt, doch aus unterschiedlichen Gründen wollen sie die Ersatzstimme nicht einführen. Die SPD sieht nach Angaben ihrer stellvertretenden innenpolitischen Sprecherin Gabriele Fograscher noch zu viele offene Fragen: Nämlich ob die Ersatzstimme rechtlich zulässig, praktikabel und nicht zu kompliziert ist und wie sie ausgestaltet werden sollte. Die Linke fordert stattdessen gleich die Abschaffung der Sperrklausel. Ihre rechtspolitische Sprecherin Halina Wawzyniak sieht in der Ersatzstimme einen faktischen Zwang, eine Partei zu wählen, die im Bundestag vertreten ist. CDU/CSU und Grüne wollten sich bis Redaktionsschluss nicht äußern.
Für die großen Parteien birgt die Ersatzstimme natürlich das Risiko eines Machtverlusts. Was also tun, wenn die Politik kein Interesse an einer solchen Wahlrechtsreform hat?
Ersatzstimmen auf anderem als dem parlamentarischen Wege in das Bundeswahlrecht einzuführen, ist schwer denkbar.
auf Bundesebene hingegen ist so etwas nach derzeitiger Rechtslage nicht möglich.Es könnte aber passieren, dass die Ersatzstimme – oder aber die Abschaffung der 5%-Hürde – demnächst vom Bundesverfassungsgericht zum Thema gemacht wird, denn Wahlprüfungs-Beschwerdeführer Benken wartet noch auf eine Entscheidung.Eigentlich müssen wir nur 8 Menschen überzeugen
»Wir haben den juristischen Weg fokussiert«, erklärt Benken, »weil wir gesagt haben: Eigentlich müssen wir nur 8 Menschen in Deutschland überzeugen, nämlich die Bundesverfassungsrichter. Denn die können sagen, dass es verfassungsrechtlich erforderlich ist, die Ersatzstimme einzuführen oder zumindest zu prüfen – darauf wollen wir all unsere Kraft verwenden.«
In den einzelnen Bundesländern könnte es hingegen weitere Volksbegehren dazu geben. Bei Mehr Demokratie e. V. ist das Thema Ersatzstimmen zwar nicht weg, aber es liegt im Moment auf Eis. »Man muss wissen, dass ein Volksbegehren eben doch recht aufwendig ist«, erklärt Wiedmann. Das Wahlrechtsthema sei außerdem sehr technisch und kompliziert und darum nicht leicht auf der Straße zu vermitteln. »Deswegen haben wir das erst mal als einen ersten Versuch gesehen«, sagt Wiedmann, »und möglicherweise starten wir irgendwann noch einmal einen neuen Versuch.«
So uninteressant kann das Thema Wahlrecht für die Menschen auf der Straße jedoch nicht sein: In Bremen und Hamburg hat Mehr Demokratie e. V. bereits erfolgreich Volksbegehren durchgeführt – und damit Wahlrechtsreformen bewirkt. Adrian Senf ist mit seinem Bedürfnis, gehört zu werden, anscheinend nicht allein.
Update: Wie Björn Benken am 30. Juni auf der Website der Aktion Wahlreform bekanntgab, hat das Bundesverfassungsgericht seine Wahlprüfungsbeschwerde mit Beschluss vom 22. Juni 2016 verworfen.
Mit Illustrationen von Lukas Oleschinski für Perspective Daily
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