Warum machen Sie denn noch immer Wahlkampf, Herr Schulz?
Die europäische Idee ist in Gefahr, sagt der frühere Parlamentspräsident Martin Schulz. Im Interview erklärt er, warum sich jetzt nicht nur die EU ändern muss – sondern wir alle.
Normalerweise erregt die Wahl zum Europäischen Parlament eher wenig Aufsehen. Gerade einmal 43% der europäischen Wahlberechtigten nahmen 2014 teil, das war der Tiefstwert Dieses Mal ist einiges anders. Europa ist in Aufruhr, und das liegt nicht nur an der österreichischen Regierungskrise, die kurz vor der Wahl auslöste.
Der wachsende Einfluss der Rechtspopulisten, das die Klimakrise und ungeklärte Fragen in der Asyl- und Migrationspolitik sind nur einige der Herausforderungen, die europäisch gelöst werden müssen. Die bevorstehende Europawahl gilt als Richtungsentscheidung: Führt sie zu einer weiteren europapolitischen Lähmung, oder erwächst aus der Krise eine schöpferische Kraft?
Ein Mann, der sich nicht nur in der europäischen Politik auskennt, sondern das Auf und Ab politischer Entwicklungen auch persönlich erfahren hat, ist Martin Schulz. Vor seiner Zeit als Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender der SPD, die im Februar 2018 ein jähes Ende fand, war er 5 Jahre lang EU-Parlamentspräsident.
Doch statt sich nun im blauen Sessel des Bundestages zurückzulehnen, kämpft er für Reformen in der EU. Gerade erst hat er mit einen überparteilichen Verein ins Leben gerufen, der Menschen zu einem aktiven Engagement für Europa motivieren soll.
Eine Woche vor der Wahl habe ich mit Martin Schulz am Rande einer Wahlkampfveranstaltung in Bielefeld darüber gesprochen, wie es in der europäischen Politik jetzt weitergehen kann.
Laut einer aktuellen Umfrage fühlen sich Eine überwältigende Mehrheit sagt: Die EU bringt uns Vorteile. Trotzdem macht sich nur ein Teil der Wahlberechtigten auf den Weg in die Wahllokale. Warum gelingt es der EU nicht, den Wert ihrer eigenen Politik zu kommunizieren?
Martin Schulz:
Um zu kommunizieren, braucht man einfache Formen, die die Menschen verstehen. Deshalb ist die Voraussetzung für eine bessere Kommunikation, dass die Strukturen der EU erkennbarer werden. Viele Menschen wissen zwar: Da wird etwas beschlossen. Aber sie können nicht erkennen, wer eigentlich wofür zuständig ist.
Haben Sie ein Beispiel dafür?
Martin Schulz:
Ein Bereich, der politisch vollständig auf die Europäische Union übertragen ist, ist die Landwirtschaft. Ca. 40% des EU-Budgets gehen in die Landwirtschaft. Im Klartext heißt das: Der EU-Landwirtschaftskommissar ist in Brüssel eine der mächtigsten Figuren. Wenn Sie auf der Straße jemanden fragen, wer der Landwirtschaftskommissar ist, und Sie sagen Phil Hogan – dann denken die Leute, das ist ein Schauspieler aus den USA. Keiner kennt ihn.
Wie lässt sich das ändern?
Martin Schulz:
Für die Bereiche, die auf die EU übertragen sind, braucht es eine europäische Regierung. Für das Europaparlament braucht es Dann hätten Sie nicht bei jeder Europawahl die Debatte, ob man für oder gegen Europa ist, sondern für welches Europa man ist. Welche Koalition kommt zustande? Wer wird Minister für Äußeres? Wer wird Landwirtschaftsminister?
Sie sprechen damit ein ungelöstes Problem der EU an. Der Einfluss des gewählten Parlaments ist zwar gewachsen, etwa bei der Mitbestimmung über den Kommissionspräsidenten und neue In den großen Krisen entscheiden dann aber letztlich doch wieder die Kommission und nationale Regierungschefs.
Martin Schulz:
Während meiner Zeit als Parlamentspräsident haben wir gegen den energischen Widerstand der Regierungschefs durchgedrückt, dass der Kommissionspräsident durch das Europaparlament bestimmt wird. Und wenn ich sage, gegen den Widerstand der Regierungschefs, sieht man, wer eigentlich die Bremser sind. Es ist den Regierungen der Nationalstaaten gelungen, die Erfolge in der EU zu Hause als Regierungserfolg darzustellen. Und wenn etwas nicht funktioniert, der EU dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben. Erfolge werden nationalisiert, Misserfolge europäisiert.
Besonders den rechten und Europa-skeptischen Parteien gelingt es, nationale Politik als bessere Alternative darzustellen. Sie wecken Emotionen, mobilisieren Wählergruppen. Den Proeuropäern ist das in dieser Form bislang nicht gelungen. Ist da in den letzten Jahren etwas versäumt worden?
Martin Schulz:
Ja. Aus genau diesem Grund haben wir den Verein »Tu was für Europa« ins Leben gerufen. Wir zielen damit nicht auf die verkopfte Europa-Debatte, sondern auf Emotionen. Wir wissen aus Umfragen, dass überwältigende Mehrheiten für die Idee Europa sind. Doch die lautstarke Minderheit erweckt den Eindruck, sie repräsentiere die Mehrheit des Volkes.
Die Mehrheit des Volkes ist für die Idee von Toleranz, Respekt und Demokratie. Aber sie ist still. Unsere Idee ist, die Menschen dort abzuholen, wo sie sind. Wenn sie im Chor sind, warum sollen wir keinen Song-Contest europäischer Chöre machen? Wenn sie gerne kochen, warum machen wir keinen europäischen Kochwettbewerb? Damit machen wir die Mehrheit sichtbar.
Bindet ein Kochwettbewerb Menschen langfristig an Europa und die EU?
Martin Schulz:
Nein, aber es gibt ihnen die Gelegenheit zu zeigen: Ich bin auch für europäische Werte. Solche Ideen brauchen wir dringend, um dieser Welle emotionalisierter Destruktivität etwas Konstruktives entgegenzusetzen.
Heißt das aber nicht auch, dass solche Initiativen und Bewegungen wie oder die Menschen stärker überzeugen und begeistern als Parteien?
Martin Schulz:
Nein, das glaube ich nicht. Die Europapolitik ist deshalb mit einer niedrigen Wahlbeteiligung gestraft, weil die Strukturen so fern sind. In Deutschland ist es nicht nötig, die Menschen zur Bundestagswahl aufzurufen. Das liegt daran, dass die Gewaltenteilung klar erkennbar ist: Sie wählen keine Institution, sondern innerhalb der Institution ihre präferierte Partei. So weit sind wir in Europa noch nicht. Deshalb müssen wir die Strukturen ändern.
Konkrete Forderungen dafür sind zum Beispiel ein oder eine
Martin Schulz:
Ja, beides ist notwendig. Da bin ich wieder bei meinem Ausgangspunkt. Wir brauchen eine Kompetenzordnung, die besagt: Das macht die EU und das macht sie nicht. Und für das, was sie macht, braucht es am Ende eine europäische Regierung. Wenn es jetzt bei der Europawahl nicht um Rechts gegen Pro-Europa ginge, sondern darum, wer die nächste europäische Regierung bildet, dann hätten wir eine ganz andere Debatte.
Das würde eine völlige Neustrukturierung der EU bedeuten.
Martin Schulz:
Ja, klar.
Auch mit einer europäischen Verfassung?
Martin Schulz:
Ich war ein großer Befürworter der europäischen Verfassung. Sie ist dann gescheitert, weil 2 Mitgliedstaaten Nein gesagt In der Summe haben aber mehr Menschen mit Ja gestimmt als mit Nein. Trotzdem haben sich seit dieser Verfassungsabstimmung die Anti-Europäer die Meinungsführerschaft erworben. Sie sagen: Europa ist gescheitert, weil die Verfassung gescheitert ist. Die Staats- und Regierungschefs, also der eigentliche Machtblock in der EU, müssten dagegenhalten. Aber sie schweigen in dieser Frage.
Warum?
Martin Schulz:
Weil eine Stärkung der EU auch die eigene Entmachtung sichtbar macht. Ich habe noch nie eine Regierung gesehen, die sich freiwillig entmachtet.
Die Folge daraus ist europapolitische Lähmung in entscheidenden Fragen.
Martin Schulz:
Ja, ganz klar. Der französische Präsident Emmanuel Macron ist jemand, der das thematisiert und sagt: Französische Souveränität reicht nicht mehr, es muss eine europäische Souveränität hinzukommen. Von Frau Merkel kenne ich keine einzige Äußerung zu dieser Debatte. Wir brauchen neue Anläufe für diese Reform.
Anders als die Bundeskanzlerin absolvieren Sie gerade einen intensiven Wahlkampf, obwohl Sie gar nicht für ein EU-Amt kandidieren. Warum machen Sie das?
Martin Schulz:
Die europäische Idee war noch nie so gefährdet wie jetzt, von innen und von außen. Wenn wir nicht wollen, dass wir zum Spielball von amerikanischen und chinesischen Machtinteressen werden, dann geht das nur über europäische Stärke. Wir müssen unser Gesellschaftsmodell verteidigen. Das ist ein Kampf, und darum engagiere ich mich.
Du bist noch unentschlossen, bei welcher Partei du am Sonntag dein Kreuz machen sollst? Meine Kollegin Katharina Wiegmann zeigt dir, wie sich die Parteien in wichtigen Fragen positionieren.
Kennst du auch das Gefühl, 1.000 Dinge tun zu wollen – oder zu müssen? Wie nutzt du die Zeit, die du hast? Stefan geht aus soziologischer Perspektive der Frage nach, wie eine neue Zeitkultur aussehen kann – und wie wir Zeit gestalten können, ohne immer nur hinterherzurennen. Dazu gehört auch die Frage, wie die Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und Privatleben gelingen kann.